Der Stolz von Liverpool

In der Rockfield Road tragen die Mauern spitze Scherben oder stacheligen Draht. Es gibt wenige intakte Scheiben, aber die meisten Fenster sind sowieso mit Sperrholz vernagelt. Selten sieht man jemanden auf der Straße, nur einige Jugendliche sind unterwegs, sie haben Kapuzen tief in ihre Gesichter gezogen. — Von Stefan Kruecken

Das Viertel gilt als eine üble Gegend, in der Drogenhandel und Schlägereien zum Alltag gehören. »Früher habe ich mal überlegt, in der Nähe ein Ferienhaus zu kaufen«, sagt Campino. Von einer Telefonleitung, quer über die Rockfield Road gespannt, baumeln Sportschuhe im Wind. Campino ist auf dem Weg zum Stadion Anfield Road, Heimat des FC Liverpool, dessen Tribünen am Ende der Straße in einen Himmel zeigen, der so grau ist, als habe jemand alle Farbe aus der Welt geklaut. Einige Schritte vor ihm öffnet sich eine Tür, eine Frau erscheint, Mitte 40 vielleicht, wirres Haar, Jogginghose und Pullover haben seit längerem keine Runde mehr in der Waschmaschine gedreht. Sie starrt den Fremden an: »Was zum Teufel willst du hier?«

»Was? Ich will das Spiel sehen«, antwortet Campino, lächelt . Die Freundlichkeit aber prallt ab, vermutlich hält sie ihn für einen Polizisten, der sich mit einer komischen Frisur tarnen will, sie murmelt irgendetwas, man versteht nur das Wort „Fucking“, und als sie sich umdreht, erkennt man Würgemale an ihrem Hals. Dann fällt die Tür wieder ins Schloss. Ein Ferienhaus in der Rockfield Road? Mit einem Bier auf der Veranda entspannen und dem vorbei wehenden Müll zusehen? Abends die Augen schließen und das Heulen der Polizeisirenen genießen?

Campino aber meint es ernst, auch nach Millionen verkaufter Platten und Millionen Fans bei ihren Tourneen, und vermutlich werden alle, die Campino alias Andreas Frege, geboren am 22.6.1962 in Düsseldorf, nicht mögen, die ihn für den ewigen Darsteller eines Punkers halten, und die sich seit Jahren an diesem Vorurteil abarbeiten, an dieser Stelle genervt mit den Augen rollen. Jeder kennt Campino: Entertainer, Talkshowdauergast, seit 22 Jahren auf Sendung. Als sich die Toten Hosen fanden, übernahm gerade Kohl das Land, drohte Nicole mit ein bisschen Frieden und sendete die ARD eine Musikshow namens »Formel Eins«.

Heute hat Deutschland Schröder und Stefan Raab, und auf MTV gestalten die Toten Hosen eine Dokumentarshow ihres eigenen Erfolges. Sie sind ein Phänomen, das zuverlässig auf der Grundlage von Fortuna Düsseldorf, Erbsensuppe und Punkrock funktioniert, ganz egal, ob gerade Techno oder Lesben-Pop zum Trend ausgerufen werden. Sie sind unverwüstlich auf dem Weg »Zurück zum Glück«, so heißt ihr neues Album.

Campino sieht nicht aus wie einer, der mehr als zwei Jahrzehnte im Maschinenraum der Musikindustrie hinter sich hat. Tourneen und der Lifestyle des Rock´n Roll haben ein paar Schnitzer in seinem Gesicht hinterlassen, aber er wirkt drahtig, fit und entspannt, als er die Rockfield Road entlang spaziert.

In Liverpool fühlt er sich zu Hause, in dieser Stadt, der nach dem Sterben der Werftindustrie lange nicht viel anderes blieb als Erinnerungen an die Beatles und ein berühmter Fußballklub. Im Traum von Liverpool fand er Wärme, »als ich nicht wusste, wo ich wirklich hingehöre«, wie er sagt. Campinos Mutter ist Engländerin, sein Vater besitzt einen deutschen Pass, drei seiner fünf Geschwister sind in auf der Insel geboren.

In Deutschland träumte der junge Andreas von England, in England aber war er der Deutsche. Er erzählt, wie die Familie im rheinischen Mettmann zu Verwandtschaftsbesuchen aufbrach, mit der Fähre von Ostende übersetzte, und ihn seine Cousins mit dem Ruf: »Achtung, Stillgestanden!« begrüßten.

Der FC Liverpool bot den Sehnsüchten eine Leinwand, seit er, neun Jahre alt, den Verein im Fernsehen spielen sah, Uefa-Pokal gegen Borussia Mönchengladbach. Mit seinen Brüdern John und Mike spielte er die englische Meisterschaft auf dem Tipp-Kickbrett nach. Campino agierte für Teams wie Liverpool oder die Queens Park Rangers, John führte das Fantasieteam »Wimbledon Wombles« ein, das trotz aller Proteste Campinos eine fulminante Siegesserie startete. Alle Versuche, die »Wombles« aufzuhalten, die ihren Namen einer Kinderserie verdankten (Campino: »das hat mich am meisten aufgeregt«), scheiterten: Souverän holten sie die Meisterschaft.

»Oft gab es Hauereien, und immer mal zog sich jemand aus dem Spielbetrieb zurück«, erzählt Campino mit breitem Grinsen. Alle Ergebnisse der vergangenen Jahrzehnte hat er in einer Ringkladde notiert, inzwischen so dick wie das Telefonbuch von Düsseldorf. Als sein liebster Tipp-Kicker vor kurzem ein Bein verlor, schickte er ihn per Kurier zum Hersteller in den Schwarzwald, »zur Notoperation«; heute trägt er ihn in einem Brillenetui von Gucci mit sich herum.

Campino erinnert oft an einen Lausbuben, der nicht am Souvenirshop des FC Liverpool vorbei kommt, ohne Mützen, Weste und Pullover zu kaufen. Ein 9-2 gegen den Max-Reporter in Formkrise, errungen in der Frühe auf einem mitgebrachten Tipp-Kick-Feld im Hotelzimmer, dreht seine Laune von Morgenmuffel deluxe auf Sonnenschein.

Er ist nun am Stadion angelangt, heute Nachmittag geht es gegen Norwich City, den Tabellenvorletzten. Anhänger beider Klubs strömen zu den Einlasstoren, berittene Polizisten, ein Fanzine-Verkäufer ruft seine Werbemelodie. Am Ehrenmal für die 96 Opfer der Katastrophe von Hillsborough, einer meterhohen, braunen Marmortafel, verharrt Campino für einige Minuten. Gerührt beobachtet er, wie sich Fans beider Teams bekreuzigen, wie mancher im Vorbeigehen ganz kurz die Tafel anfasst.

Vor dem Eingang für Offizielle begrüßt er Tina Hamann, Gattin des Ex-Nationalspielers Didi Hamann, Mittelfeld, mit dem er seit Jahren befreundet ist. Tina Hamann führt Campino an den Sicherheitskontrollen vorbei in den Bauch von Anfield, anzugtragende Klubangestellte grüßen freundlich. In der »Players Lounge« liegt schwerer, roter Teppich, in den das Klublogo eingestickt ist, es gibt Schnittchen und Kaffee, zwei verletzte Kicker des FC Liverpool haben Krücken an einer Bar abgestellt und nippen an Cola. Tina Hamann, blonde Haare, freundliche Augen, grüßt die anderen Spielerfrauen, dann lädt sie Campino zu einem Bier ein, bis zum Anstoß sind es noch ein paar Minuten.

Vor dem Getränkestand drängen Fans, es riecht nach Fußballstadion, nach Zigaretten und Alkohol, an den Wänden kleben Wettangebote der Buchmacher, 300/1, wenn Hamann das 3:0 schießt. Campino verschwindet in der Menge, man sieht ihm an, wie sehr er diese seltene Freiheit genießt, und als er die letzten Stufen auf die Tribüne nimmt, erinnert er wieder an einen Lausejungen, diesmal an Heiligabend. Bescherung in Block MA, Reihe 4, Sitznummer 0072, Main Stand.

Der Schriftsteller Javier Marias nannte Fußball eine wahre Rückgewinnung der Kindheit, Woche für Woche, und so liegen die Dinge auch bei Campino. Bis zu 20 Spiele verfolgt er im Jahr, und irgendwie kicken auch die »Wimbledon Wombels« immer mit. Dass es Liverpool und die drittklassige Düsseldorfer Fortuna geblieben ist, hat nicht nur damit zu tun, dass Campino in Wahrheit ein konservativer Mensch ist. Mag sein, dass man in einer schnelllebigen Zeit alles Mögliche wechselt, die Weltanschauung, die Frau, Freunde, Feinde, Haus oder Auto, eines aber bleibt: Der Fußballverein, in den man sich zuerst verliebt hat.

Kurz vor Anpfiff erheben sich die Anhänger auf dem »Kop«, der vielleicht legendärsten Tribüne in der Welt des Fußball, und jetzt wartet Anfield auf die Hymne, die man hier zuerst anstimmte, und die heute von Glasgow bis St. Pauli und bei jedem Konzert der Toten Hosen emotionaler Höhepunkt des Spiels ist. Tausende Schals in der Luft, auch Campino spannt seinen hoch über den Kopf, Fahnen wehen, dann singen 42.000 »You´ll never walk alone«, es ist eine heilige Stimmung. Eigentlich klingt jeder Song der Toten Hosen nach »You´ll never walk alone«, nach Stadion, Fußball ist gewissermaßen das Hintergrundgeräusch ihrer Musik. Campino beobachtet schweigend eine einseitige Partie, springt für drei Tore auf, lächelt den Rest mit stillen Genuss in sich hinein. Nur einmal verzieht er das Gesicht, als sein Handy brummt und eine SMS das Ergebnis der Fortuna übermittelt: Heimniederlage, mal wieder.

Andreas Frege kann nicht derjenige sein, der vor ein paar Jahren in Talkshows von NDR bis Sat1 eine Art Bundesbeauftragten für alle Fragen von Pubertät und politischer Korrektheit gab. Er ist ein leiser Mensch, vorsichtig, beinahe ängstlich, einer, dem alles forsche, alles rotzige fremd zu sein scheint. »Soll ich das sein? Dieser lange Typ mit dem kleinen, nach vorne irgendwie zerknautschten Schädel, der vor dem ersten Kaffee sowieso nicht ganz durchblickt und danach versucht, das Niveau zu halten?«, schreibt er in der Autobiographie der Band.

Die »Panamerican Bar« liegt in den Albert Docks, rotes Licht, gepolsterte Sitzecken, ein DJ legt dezent auf. Campino und Hamann essen in einer Ecke an der Fensterfront, mit Blick aufs Wasser, in sich Liverpools Waterfront spiegelt. Als sich alle Kellner Autogramme von Hamann abgeholt haben (Campino: »Er ist hier so populär wie ein fünfter Beatle«) können sie sich unterhalten.

Campino, 42 Jahre alt, berichtet, wie sich sein Leben verändert hat nach der Geburt seines Sohnes Lenn Julian. Dass kein Platz mehr sei für Egoismus, Alleingänge, Auszeiten. Er macht Witze über sein Schlafdefizit, er erklärt, wie viel aufmerksamer er sein Leben seit acht Monaten betrachtet. Dass er seinen Platz, seine Heimat nun endgültig gefunden hat: »Genau da, wo meine Familie lebt.«

Er redet viel über ewige Werte wie Respekt, und weil man ihm das abnimmt, überlebt auch sein Erfolg. Wenn man ihm gegenüber sitzt, denkt man irgendwann, dass es jemand anderes sein muss, der sich in Menschenmassen stürzt oder kopfüber von Bühnenaufbauten hängt. In ihm muss ein Bühnenmenschen wohnen, der immer dann ein Eigenleben entwickelt, sobald die Musik spielt.

Der Abend verfliegt, es wird viel gelacht, und als man auseinander geht, schmeißt ein Taxifahrer einen Gast hinaus, um das Ehepaar Hamann nach Hause fahren zu dürfen. An Campino rasen die Taxen vorbei, und so stellt er den Jackenkragen hoch und läuft Richtung Hauptbahnhof. Um zwei Uhr, zur Sperrstunde, schließen alle Pubs und Bars, die Partygänger fallen auf die Straßen.

Liverpool ist sehr betrunken, junge Frauen mit dicken Beinen und grellen Miniröcken torkeln vorbei, Männer tragen Besinnungslose Huckepack nach Hause, es ist ein Grölen und Erbrechen und Lachen und Hupen. Es ist mehr Alkohol im Spiel als am Rosenmontag in Düsseldorf, aber das hier ist Wut im halbnarkotisierten Zustand.

Viel später beobachtet Campino aus einem Doppeldeckerbus, Linie N82, wie jemand auf allen Vieren in eine Filiale von Krunchy Fried Chicken kriecht. Am Busfenster wanken Frauen vorbei, die sich scheinbar nur von Krunchy Fried Chicken ernähren, zwei Verliebte fummeln trunken aneinander herum. »Ich mag es, wie die Leute hier feiern, auch wenn es wirklich hart ist«, sagt Campino. »Sowas habe ich noch nie gesehen.«

Pen_8x8    Autor: Max, 11/2004
Image_8x8    Bild: inf3ktion
Link_8x8    Quelle: Stefan Kruecken


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