Die Schachtscheißer
Die Situation vor dem 31. Spieltag war klar. Falls 1860 München zu Hause nicht gegen Essen gewinnt, könnte der FC mit einem Sieg in Aue den Aufstieg perfekt machen. — Von Manuel Andrack
Es sollte der Höhepunkt der Saison werden, aber ganz unabhängig davon hatte ich mich von Anfang an auf genau dieses Spiel gefreut. Ich war noch nie im Erzgebirge gewesen und hatte deshalb schon lange im Voraus mit Markus und meinem alten Studienfreund Rolf ein verlängertes Wochenende in Sachsen geplant. Einen Tag vor dem Spiel am Montagabend fuhren wir früh am Morgen in Köln los.
Es ging mit Rolfs Auto nach Aue und ich glaube, es ist bis heute das gebräuchlichste Verkehrsmittel für Auswärtsfahrten. Obwohl ich keinen Führerschein besitze (ich hatte auch noch nie einen, falls jemand auf die Idee kommt, zu denken, ich hätte den »Lappen« vielleicht abgenommen bekommen), bin ich natürlich häufig zusammen mit anderen im Auto zu Spielen gefahren. Das größte Problem dabei bleibt die Parkplatzsuche.
Als Borussia Mönchengladbach noch auf dem Bökelberg, der mitten in einem Wohngebiet lag, spielte, musste man dort kurz hinter der Autobahnabfahrt parken und eine halbe Stunde bis zum Stadion laufen. Noch schlimmer aber ist es in Bochum. Dort wird man von der Autobahn aus direkt in ein riesiges Parkhaus am Ruhrstadion gelenkt, wo auch die Besucher des Musicals »Starlight Express« parkten. Leider endete die Samstagnachmittagsvorstellung parallel zum Bundesligaspiel. Eine Stunde verbrachten wir wartend im Auto, aber immerhin hatte der FC 1: 0 in Bochum gewonnen – anders erträgt man das auch nicht.
Ein Muss bei jeder Autoauswärtsfahrt ist der im Wind flatternde Schal. Er wird im hochgedrehten Fenster befestigt. Allerdings schlug mein Schal bei Tempo 180 so heftig gegen Rolfs Autodach, dass ich ihn bis auf einen 20 Zentimeter langen Restfetzen einholen musste.
Am Nachmittag trafen wir im Hotel ein, wo sich auch die Mannschaft einquartiert hatte. Als wir gerade unser Gepäck aus dem Wagen holten, fuhr der FC-Bus – allerdings ohne Mannschaft – vor. Die Rezeptionistin begrüßte uns aufgeregt: »Oh Gott, sind Sie jetzt schon da? Oh Gott, so früh hatten wir gar nicht mit Ihnen gerechnet. Sie wollten doch erst um 19 Uhr kommen.« Wir waren einigermaßen stolz, dass man uns für einen Teil einer Profimannschaft hielt, klärten das Missverständnis aber umgehend auf. Bevor wir unsere Zimmer bezogen, konnten wir noch schnell einen Blick auf die Zimmerbelegung der richtigen Profis werfen. Interessanterweise war da von einem gewissen Marius Ebbero die Rede – klang nach einem neuen Brasilianer.
Als wir von einer 15-Kilometer-Wanderung zurückkamen, stürmte ich sofort zum Fernseher. 1860 hatte tatsächlich nur 0: 0 gegen Rot-Weiss Essen gespielt. Also, wenn wir morgen gewinnen würden, wären wir aufgestiegen.
Bis dahin war es aber noch ein ganzer Tag und wir vertrieben uns die Zeit mit Miniaturgolf und mit einer Fahrt nach Pöhla in ein Besucherbergwerk. Das Erzgebirge ist nun mal eine Bergwerkgegend, weshalb auch der Verein Erzgebirge Aue früher einmal Wismut Aue hieß. Auf den Trikots und Fahnen sieht man die gekreuzten Eisen und Schlegel der Bergleute – dagegen wirken die Versuche der Dortmunder und Schalker, sich eine Bergarbeitertradition auf die neureiche Fassade zu heften, extrem lächerlich und hilflos. Und auch die Fans besingen bis heute den alten Vereinsnamen: »Wir kommen aus der Tiefe, wir kommen aus dem Schacht, Wismut Aue, die neue Fußballmacht.«
Was genau ist die, beziehungsweise das Wismut? Das Wismut ist ein Metall und gehört mit der Ordnungszahl 83 in die fünfte Hauptgruppe der chemischen Elemente, in der sich auch Stickstoff, Phosphor und Arsen befinden. Und: Wismut ist das letzte Element im Periodensystem, das noch nicht radioaktiv ist. Und hier wird es spannend. Wismut wurde in kleinen Mengen im Erzgebirge schon seit Hunderten von Jahren abgebaut.
Seit dem Mittelalter wurde hier sowieso alles außer Gold und Diamanten abgebaut, was der Mensch für abbauwürdig hielt: Eisenerz, Silber, Zinn, Kobalt und ungefähr 250 weitere Metalle. Aber auch Uranerz, und auf diese Uranerzvorkommen waren die Russen scharf, nachdem das Erzgebirge ab 1945 zur russisch besetzten Zone gehörte. Hektisch arbeiteten sie damals an einem eigenen Atomwaffenprogramm, nur mangelte es ihnen an spaltbarem Material. Das sollt nun mit dem Erzgebirge anders werden. Aber damit niemand spitzkriegte, dass die Russen in großen Mengen Uran förderten, nannten sie das Ganze Wismutabbau, weil das ja (flöt, flöt) nicht radioaktiv ist. Das Uranerz wurde dann bei den 500 russischen Atombombentests verwandt und hätte für insgesamt 90000 Atombomben gereicht. Dabei haben die Kumpels, wie unser Bergführer im Besucherwerk erzählte, keine Ahnung gehabt, was sie da abbauten.
Auch in offiziellen Berichten war nie von Uran die Rede, sondern immer von Wismut oder Pechblende, dem alten erzgebirgischen Ausdruck für Uranerz. Besonders schön geschliffene Stücke Pechblende ließen die Bergleute ihren Frauen als Schmuckstück einfassen, denen dann oft nach einigen Jahren die Fingernägel und Haare ausfielen. Erst Ende der 60er Jahre sickerte durch, was dort in der Gegend um Aue abgebaut wurde, und die »Schmuckstücke« verschwanden in den Kommoden.
Um den Uranerzabbau geheim zu halten, erhielt die gesamte Region einen Sonderstatus: Die Wismut, wie das Bergbaukombinat zu DDR-Zeiten hieß, bildete einen Staat im Staat mit eigenen Geschäften, extrem guter Bezahlung der Bergleute, Erholungsheimen und einem Gesundheitswesen auf höchstem Niveau. Diese Mischung aus Geheimhaltung und Privilegien sicherte der Wismut bis heute ein gutes Image, dem selbst die hohe Zahl der Strahlenerkrankungen nicht schaden konnte. Heute sind die meisten Bergwerke in der Gegend geschlossen.
Dann ging es endlich ins Stadion, wo ich mir erst einmal das Maskottchen von Erzgebirge Aue kaufte: den Schachtscheißer. So nennen sich auch die Ultras hier. So wie die Kölner Fans den eigentlich negativ gemeinten Schmähruf »Karnevalsverein« für sich beanspruchen, nennen sie sich in Aue Schachtscheißer und nehmen so den gegnerischen Fans den Wind aus den Segeln.
Eine halbe Stunde vor Spielbeginn hatte ich mich mit dem DSF zu einem Interview am Spielfeldrand verabredet. Der DSF-Moderator befragte mich über die Zukunftsaussichten des FC und meine Eindrücke im Erzgebirge. Während einer Werbepause schaute ich den Spielern von Aue bei den Aufwärmübungen zu. Auch das Schiedsrichtergespann lief sich warm. Und dann – ich konnte es kaum glauben – sah ich deutlich, wie der albanische Mittelfeldregisseur der Auer dem Schiedsrichter der Partie zuzwinkerte. Was lief denn hier? Nach dem Hoyzer-Skandal wurde man ja sehr schnell misstrauisch. Nach dem Interview bat mich der DSF-Mann noch um ein zusätzliches Interview nach dem Spiel. Klar, würde ich mitmachen, egal ob wir aufgestiegen wären oder nicht.
Ich ging zum Stehplatzblock der Gästefans, wo schon Rolf und Markus auf mich warteten. Schätzungsweise 600 Kölner waren mitgereist und das Stadion war restlos ausverkauft, so dass die Fans bis auf den Hügeln hinter dem Stadion standen.
Das Spiel wurde angepfiffen und mit dem ersten Angriff der Heimmannschaft stand es 1:0 für Erzgebirge Aue. Wir hatten nur erkennen können, dass eine Bogenlampe an den Pfosten gegangen war. Auf der erst zwei Wochen alten Videoleinwand wurde das »Tor« wiederholt und wirklich jeder im Stadion konnte sehen, dass der Ball nicht hinter der Linie gewesen war. Vom Pfosten war der Ball vor die Linie gesprungen und von da auf das Spielfeld. Ein Phantomtor! Die Kölner Bank bestürmte den Schiedsrichter, das Tor zurückzunehmen. Doch er blieb stur.
Ich kann mich nicht erinnern, bei einem Fußballspiel jemals so explodiert zu sein. Unflätig beschimpfte ich den Schiedsrichter, riss mir den Schal von den Schultern und trampelte vor Wut auf ihm herum. Das durfte ja wohl nicht wahr sein, jetzt hatten wir in Aue die Möglichkeit aufzusteigen, und ein unfähiger oder bestochener Schiedsrichter wollte das verhindern. Ich hätte am liebsten losgeheult. Das Adrenalin in der Kurve stieg und die Fans feuerten weiter unsere Mannschaft an.
Nach 15 Minuten schienen sich die Kölner von dem frühen Rückstand zu erholen und hatten das Spiel besser im Griff. Trotz verletzungsbedingter Ausfälle (u. a. Podolski) kämpfte das Team um jeden Ball. Die wollten hier noch etwas holen, das war deutlich zu spüren. In der 27. Minute wurde Guie-Mien übel von hinten in den Rücken gestoßen und ging im Strafraum zu Boden. Es war eines der klarsten Fouls seit Toni Schumachers Attacke gegen Battiston gewesen. Das musste einen Elfmeter plus rote Karte geben. Allein der Schiedsrichter ließ ungerührt weiterspielen. Jetzt fügte sich alles zusammen: das Zwinkern des Auer Spielers, das Tor, das keines war, ein nicht gegebener klarer Elfmeter. Wenn es sonst kein anderer machen würde, würde ich nach dem Spiel der Welt erzählen, dass diese Partie verschoben wurde, und auf einem Wiederholungsspiel bestehen. Wir sangen »Ihr macht unseren Sport kaputt, ihr Wichser« und »Ohne Schiri habt ihr keine Chance«.
Die Mannschaft schienen die fortlaufenden Benachteiligungen eher anzuspornen. Und so erzielte Christian Springer noch kurz vor der Pause das 1:1. Ich sprang in die Arme von Markus und Rolf. Jaaaaaaa! Ich stimmte »Christian Springer Fußballgott« an und ungefähr 20 weitere Fans sangen mit. Herrlich. Vielleicht würde aus dem viel gescholtenen Spieler doch noch unser Aufstiegsheld.
Wir würden es schaffen, da waren wir uns ganz sicher! Die Pause nutzte ich, um mich von dem Stress der ersten Halbzeit zu erholen. Ich hatte mein T-Shirt durchgeschwitzt, vor Aufregung und da es immer noch sehr warm in Aue war. Die meisten Fans der »Wilden Horde« hatten sich ihre T-Shirts ausgezogen und sprangen aufgedreht mit nackten Oberkörpern herum. So weit wollte ich aus Gründen der Ästhetik dann doch nicht gehen.
In der 66. Minute gab es aber dann kein Halten mehr. Marius Ebbers hatte nach einem schönen Pass von Christian Lell das 1:2 erzielt. Marius Ebbers, der Marius Ebbero von der Hotelliste, unser Brasilianer Ebbero, hatte uns in die Erste Liga geschossen, wenn es denn bei diesem Ergebnis bleiben würde. Ich tanzte Pogo mit mir selbst, schrie und umarmte jeden, der in meiner Nähe stand. Den Rückstand wollten die Auer aber nicht auf sich sitzen lassen. Sie steckten keineswegs zurück, sondern schnürten unser Team streckenweise regelrecht in unserer Hälfte ein. Die Minuten bis zum Abpfiff dehnten sich wie in einem surrealistischen Alptraum.
Dann war es vorbei und ich hatte kaum mehr Kraft zu jubeln. Ich erlitt eher so etwas wie einen kleinen Nervenzusammenbruch und fing an zu heulen. Nur ganz kurz, so zehn Sekunden. (Richtig geheult habe ich im Stadion nur einmal, und das war am letzten Spieltag der Saison 1997/98, als es endgültig in die Zweite Liga ging.) Wir waren aufgestiegen! Nie mehr Zweite Liga! Heute Abend war ich Zeuge des letzten Montagabendspiels des FC für alle Zeiten gewesen. Das wollten wir feiern.
Ich umarmte und drückte Rolf, Markus, Willi, Silvia, Daniel und alle anderen, die mir auf den Auswärtsfahrten ans Herz gewachsen waren. Wir sangen »Aufstieg in Aue, wir feiern Aufstieg in Aue, Aufstieg in Aaaaue!« Immer und immer wieder kamen die Spieler und wir ließen sie hochleben. Von den Bierduschen für Huub Stevens, die man am nächsten Tag in den Zeitungen bewundern durfte, konnte man von unserem Platz nichts sehen. Auf der Anzeigetafel gratulierte Erzgebirge Aue dem 1. FC Köln zum Aufstieg und die meisten Fans schlossen sich an, nur ein paar wenige sangen: »In zwei Jahren seid ihr wieder hier« - aber es wäre schon ein unglaublicher Zufall, wenn wir im Pokal in Aue antreten müssten.
Ich erinnerte mich an das versprochene Interview für das DSF und wurde von den Ordnern aufs Spielfeld gelassen. Dort entdeckte ich Zeugwart Hartjens und beglückwünschte ihn zum Aufstieg. Er nestelte aus einer Plastiktüte ein frisches Aufstieg-2005-T-Shirt und schenkte es mir. »Hier, ist meines, kannst du haben, ich passe da sowieso nicht rein.« Ich streifte es direkt über und hatte nun für alle Zeiten eine Aufstiegsreliquie. Den DSF-Moderator habe ich übrigens nicht mehr gefunden, was auch nicht weiter schlimm war. Nach unserem Sieg musste ich keine wilden Verschwörungstheorien mehr verbreiten.
Es war der dritte Aufstieg des FC gewesen. Im Lienen-Aufstiegsjahr 2000 hatte ich mit Markus und dem FC-Andreas vor dem Fernseher gesessen und als der FC nach einem 1:3-Rückstand in Hannover mit 5:3 gewann, waren wir wieder in der Ersten Liga. Freudentrunken fuhren wir auf die Ringe und feierten bis in den frühen Morgen. An den Funkel-Aufstieg 2003 nach einer gruseligen Saison kann ich mich dagegen nicht mehr erinnern. Den Annalen entnehme ich, dass wir fünf Spieltage vor Schluss mit 2:1 gegen St. Pauli gewonnen haben. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich Überhaupt im Stadion war, geschweige denn, wie das Spiel war. Den Aufstieg 2005 bei den Schachtscheißern würde ich in 50 Jahren nicht vergessen haben, da war ich mir sicher.
Autor:
Manuel Andrack: Meine Saison mit dem FC
Bild:
Joachim Bomann
Quelle:
Manuel Andrack