An der Klagemauer

Kurz vor zehn Uhr traf ich am Breslauer Platz an der Rückseite des Kölner Hauptbahnhofs ein. Ich wollte mit dem Fanbus zum Auswärtsspiel nach Saarbrücken fahren. Ich hatte ein flaues Gefühl und weiche Knie. — Von Manuel Andrack

Ich hatte schon viel über das Fahren mit Fans in Bussen gehört und gelesen. Da wurde der Busfahrer aufs Unflätigste beschimpft und Polster aufgeschlitzt, da stapelten sich die Bierdosen kniehoch im Mittelgang und die Sitze waren voll gekotzt, da wurden Eimer herumgereicht, in die man hineinurinierte, und die Scheiben des Busses von gegnerischen Fans zertrümmert. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht nur ein flaues Gefühl, sondern sogar weiche Knie, denn so ein harter Junge bin ich auch wieder nicht.

Beim Einsteigen erhielt ich von einem Mitarbeiter des Fan-Projekts eine Haftungserklärung, in der ich schriftlich versichern musste, dass ich mich im Bus ordentlich benehmen werde und auch melde, wenn mein Sitznachbar sich nicht ordentlich benimmt. Ich setzte mich auf einen der vorderen Plätze, da mir hinten immer schlecht wird (ich hab doch gesagt, ich bin kein harter Junge). In die Haftungserklärung musste ich meine Sitzplatznummer (11) eintragen. Wenn dieser Platz beschmutzt hinterlassen wurde, war ich so richtig dran. An der Lehne war ein Plastikmüllbeutel befestigt, damit auch alles ordentlich bleiben konnte. Auch auf preußische Pünktlichkeit achtete man.

Um Schlag zehn Uhr rollte der Bus los und wie reisende Senioren zwanghaft in einem Zugabteil im Moment der Losfahrt zur Tupperdose und zum hart gekochten Ei greifen, kam auch hier Bewegung in die Schar der Hardcore-Fans. Die Jungs aus dem hinteren Teil standen ordentlich Schlange, um sich die Morgenration Dosenbier zu besorgen. Vorne wurden hingegen selbst geschmierte Stullen, kleine Frikadellen und gewürfelte Käsehäppchen ausgepackt. Da ich nichts dabei hatte, bot man mir mitleidig etwas an. Ich traute meinen Augen nicht, was ich in dem Plastikbeutel erblickte, der mir über den Mittel- gang hinweg gereicht wurde: geschälte und gewaschene Karotten und Radieschen.

Zur Erinnerung: Ich war nicht mit dem Arbeitskreis grüner Landfrauen von Wermelskirchen unterwegs, sondern mit Fußballfans! Unfassbar! Aber ehrlich gesagt, behagte mir diese familiäre Atmosphäre wesentlich mehr als das, was ich mir unter so einer Fahrt vorgestellt hatte. Langsam entspannte ich mich.

Vor mir saß Rainer Mendel, der Fanbeauftragte des 1. FC Köln. Sein Vorgänger war der heutige Stadionsprecher Michael Trippel, der zweite Fanbeauftragte nach Mönchengladbach überhaupt in der Bundesliga. Seit 1989 machte Mendel diesen Job ehrenamtlich. Als es immer mehr Arbeit wurde, stellte ihn der FC 1997 hauptberuflich an, unterstützt von einigen haupt- und ehrenamtlichen Assistenten. Dieser Sonntag war für ihn ein ganz normaler Arbeitstag, auch wenn er eine Dose Gaffel in der Hand hielt. Er erklärte mir, warum es in dem Bus so ordentlich zuging.

Auswärtsfahnen wären früher extrem wild gewesen und irgendwann hätte sich ganz einfach kein Busunternehmer mehr gefunden, der das mitgemacht hätte. Das freiwillige Disziplinierungsprogramm liefere wieder die Grundlage für den Fantransport. Die »Wilde Horde« sei übrigens noch radikaler, erzählte er. Wenn dort einer bei einer Busfahrt Mist baue, müsse der Übeltäter an Ort und Stelle den Bus verlassen, egal wo der sich gerade befände. Harte Sitten.

Das Pärchen neben mir, Conny und Alex, erzählte mir von ihren Spezialwochenenden. So haben sie schon an einem Freitagabend ein FC-Spiel in Mannheim gesehen, sind nachts nach Leeds mit dem Bus gefahren, um dort Leeds gegen Nottingham in der Nottinghamer Fankurve zu sehen, und sind dann noch in der Nacht zum Sonntag zurück nach Deutschland. Ich drückte meine Bewunderung aus. Kurz vor Saarbrücken kreischte Conny: »Jetzt ziehen die sich schon wieder aus!« Im hinteren Busteil hatten sich einige Fans die wollenen FC-Schals um die entblößten Oberkörper geschwungen und stimmten sich lauthals auf das Match ein. Nicht alle dieser bleichen Hautflächen entsprachen den ästhetischen Vorstellungen der weiblichen Mitreisenden.

Um 13.15 Uhr kamen wir in Saarbrücken an und wurden netterweise direkt von einem Saarbrücker Polizeiwagen wie bei einem Staatsbesuch mit Blaulicht zum Stadion geleitet. Rainer Mendel ermahnte die Fans: »Bitte nicht mit Stinkefinger und Ähnlichem die Saarbrücker Fans provozieren! Unser Bus ist schon Provokation genug.« Der Edelfan-Auswärtsbus war nämlich mit der riesigen Aufschrift »Auswärtssieg« verziert. Aus dem Busfenster heraus konnte ich beobachten, wie ein FC-Fan im Rollstuhl ins Gebüsch pinkelte. Alle anderen schienen ihn zu kennen. »Der ver- steckt vor dem Spiel immer Glückspfennige an den Torpfosten in den fremden Stadien.« Das sollte also auch heute Glück bringen.

Im Stadion wunderte ich mich ein weiteres Mal, aus welchen Ecken Deutschlands die FC-Fans kommen. Ich machte die Bekanntschaft von Limburger und Stuttgarter FC- Fans, und die »Baden-Böcke« waren auch vertreten. Conny und Alex waren stolz, dass in der Gästekurve von Saarbrücken erstmals auch ihr nigelnagelneues Banner »In dubio pro Colonia« zu sehen war. Ich war sehr zufrieden, dass die beiden beachtet hatten, dass »pro« im Lateinischen den Kasus Ablativ erfordert und es daher »Colonia« heißen musste statt »Colonius«. Vor dem Spiel skandierten die FC-Fans einen sehr zurückhaltend bescheidenen Song, der mir neu war: »Kniet nieder, ihr Bauern, der FC ist zu Gast«.

Ein beliebter Slogan für Fahrten in ländlichere Gegenden wie das Saarland, die Pfalz und Berlin. Das fand ich lustig. Leider hielten sich die Saarbrücker Spieler aber nicht an unseren Vorschlag, niederzuknien, sondern bestürmten zielstrebig das Kölner Tor. Sie waren im Vergleich zum Pokalspiel nicht mehr wiederzuerkennen. Die konnten ja plötzlich Fußball spielen.

»Unsere Spieler betteln ja ums Tor«, stöhnte Alex neben mir. Die Stimmung war ein bisschen gedämpft. Als Matthias Scherz etwas ungeschickt eine Chance für den FC verstolperte, erklang nur ein lahmes »FC, FC«. Da wollte Michael nicht mehr länger zuschauen. Im Bus hatte ich mich länger mit ihm unterhalten. Als Betriebsratsvorsitzende konnte er sich seine Arbeitszeit frei einteilen, so dass er bei vielen Auswärtsfahrten mit dabei war. Jetzt wollte er etwas für die Stimmung tun und kletterte auf den Zaun. Zehn Sekunden später hatten ihn die Saarbrücker Ordner dort heruntergeholt. Die Ordner vor unserem Block waren dankenswerterweise mit neonfarbenen Leibchen durchnummeriert.

Den FC-Fans bereitete es einen Höllenspaß, sich einige Ordner anhand ihrer Nummern vorzunehmen. »106 ist homosexuell« sangen sie, und die Saarbrücker Ordner mit der Vermutung gleichgeschlechtlicher Vorlieben zu provozieren war auf jeden Fall interessanter als das Spielgeschehen. In der 40. Minute hatten die Kölner lange genug gebettelt. Saarbrücken schoss das 1:0.

In der zweiten Halbzeit war der FC zwar besser, aber nicht zwingend genug und so versetzte uns Saarbrücken in der 72. Minute den Todesstoß. Ich hakte das Spiel schnell unter der Rubrik »Vielleicht die Niederlage zu rechten Zeit« ab. Nicht so Bierchen. Bierchen hatte in den letzten fünf Jahren 170 Pflichtspiele des FC in Folge gesehen und da natürlich sehr viel Elend erlebt. In der letzten Saison durften die Fans keinen Auswärtssieg bejubeln und sind 17 Mal mit Vollfrust nach Hause gefahren! Doch die Niederlage in Saarbrücken hatte Bierchen ordentlich geärgert. »Die steigen nicht auf«, legte er sich fest. Außerdem fand er die italienische Fansitte, nach Niederlagen die Autos der Spieler in Brand zu stecken, eigentlich ganz in Ordnung. Als überzeugter Pazifist kamen solche Problemlösungen für mich allerdings nicht in Frage. Die Heimfahrt verlief dann bierselig nett.

Am nächsten Morgen schlugen der Kölner Stadt-Anzeiger und der Express um sich: »Tag der Auflösung«, »Der große Knall«, »Das Crescendo des Zorns«. Die Spieler »waren wie eine Bambini-Truppe von A-Junioren zerlegt« worden. »Das Resultat war verdient, gnädig, überflüssig« und der FC »hatte sich in seine Bestandteile aufgelöst«. »Die Mannschaftsleistung war unterirdisch« und »wie es da bei zwei Toren bleiben konnte, ist immer noch irgendwie rätselhaft«.

In einem Kommentar listete ein Stadt-Anzeiger-Journalist dic letzten Spiele auf (zur Erinnerung, diese vier letzten Spiele hatte der 1. FC Köln allesamt gewonnen): »2:0 gegen Frankfurt – erzwungen. 1:0 in Karlsruhe – glücklich. 3:2 in Aachen gegen zehn. 3: 2 über Dresden – unerklärlich.« Nach dieser Logik würden sich die deutschen WM-Erfolge dann so lesen: 1954 – war halt dem Fritz Walter sein Wetter. 1974 – na ja, ein Heimspiel. 1990 – gegen neun. Mich persönlich hat diese Runterschreibe in den vergangenen Jahren derart viele Nerven gekostet, dass ich es selten ausgehalten habe, Kölner Zeitungen zu lesen.

Wahrscheinlich gibt es einfach eine unterschiedliche Wahrnehmungslage zwischen Fan und Fußballjournalist. Der Fan möchte feiern und jubeln und ist, da er seinen Verein liebt, auch eher bereit, zu verzeihen. Zu verzeihen, wie man dem eigenen Kind verzeiht, das immer wieder Mist baut, das man aber dennoch liebt. Aber kann man es denn verstoßen? Nein. Es bleibt ja doch das eigene Kind! Wie wäre sonst zu erklären, dass nach teilweise wirklich verheerenden Leistungen auf dem Platz und mittlerweile drei Abstiegen die Zuschauer- und Mitgliederzahlen des FC derart in die Höhe schießen?

Der Journalist dagegen muss Jahr für Jahr einen Sinn in seinem Leben finden, das daraus besteht, mittelmäßigen Fußballstars hinterherzulaufen. Irgendwann, wenn man so einen Job lange macht, wendet sich die anfängliche Begeisterung für den Fußballsport, für einen Verein wie den FC über Ermattung in Zynismus und Abneigung. Auch irgendwie menschlich. Ich schlage aber einigen Kölner Journalisten vor, mal ein Jahr einen Journalistentausch mit den Kollegen in Nürnberg, Hannover, Bielefeld oder Hamburg vorzunehmen. Erstaunt würden sie feststellen, dass auch dort den guten alten Zeiten hinterher geweint wird. Und in ihrem einjährigen Volontariat könnten dann die ganzen Nürnberger, Hannoveraner und Hamburger Journalisten weise Kommentare fernab der Klagemauer schreiben.

Motto: Wenn ihr wüsstet, was bei uns los ist ...

Pen_8x8    Autor: Manuel Andrack
Image_8x8    Bild: Groundhopping Merseburg
Link_8x8    Quelle: Manuel Andrack: Meine Saison mit dem FC


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