Jede Menge frische Briesen
1911. Revolutionen in Mexiko und China. Marokkokrise. Italienisch-Türkischer Krieg. Teuerungsrevolte in Wien. Der Norweger Roald Amundsen erreicht als erster Mensch den Südpol. Und in Kiel wird das Holstein-Stadion eingeweiht. — Von Heiko Rothenpieler
Ein Jahr später feiern die »Störche« die deutsche Meisterschaft. Seitdem ist viel passiert. Mit insgesamt neun Schönheits-OPs verdient sich kaum ein anderer Ground in deutschen Fußballterritorien das Prädikat »altehrwürdig« so sehr wie das Storchennest in der Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins.
Und trotz der vielen Renovierungen sind von arenenartigen Allüren keine Spuren zu finden. Vier Flutlichtmasten, 3/4 Stehplätze, Ecken offen und jede Menge frische Brisen sprechen für sich. Als einziger Dorn im Auge fällt einem jedoch leider die mangelhafte Sichtqualität auf den Stehrängen der Gegentribüne auf: der als Gerüst entworfenen Konstruktion fehlen einige Grade Steigungswinkel. Und da jene flachen Stufen nicht bis auf Normalnull des Spielfeldes herunter gezogen sind, sondern auf Brusthöhe der Spieler enden, hilft alles Drehen und Verrenken des steifen Nackens nicht um den Ball in eckballnahen Momenten zu verfolgen.
Nach ein paar Minuten aber gewöhnt man sich an diese Spielsituationen, in denen man hofft, dass aus dem wahrscheinlichen Zweikampf, der sich gerade höchstwahrscheinlich zwischen Seitenaus- und Torauslinie zuträgt, eine möglichst gefährliche Flanke ergibt. Daher ärgern einen auch 9 Euro Eintritt (ermäßigt) ein wenig, wenn auch die qualitativ hochwertige Stadionzeitschrift in DIN-A4 glänzend und siebzig Seiten für lau im Eingangsbereich ausliegt.
Stolle, Stimmung, Stadionaura
Besonders positiv gefallen Größe und Gestaltung des Gästebereichs. Weder Tunnel, Absperrungen oder meterhohe Zäune engen den Support des anderen Lagers ein. Natürlich gelten die circa sechzig Fans aus dem 947 Kilometer (!) entfernten Burghausen nicht gerade als die Wilde Horde Oberbayerns.
Dennoch hat man auch ohne Polizeihunde und Ordnerscharen durchweg das Gefühl, dass Gästefans in Kiel willkommen sind und auch ohne pedantische Formularorgien Fone, Fahnen und sonstigen Kladderadatsch als Support nutzen können (ausgenommen sind wohl Partien gegen den Erzfeind aus Lübeck).
Als Kirsche auf der schmackhaften Matjestorte Gästebereich entpuppt sich noch ein Kartenverkaufscontainer, dessen Aussehen eine Mischung aus besetztem Haus und Tiertransporter assoziiert. Der junge Bursche mit makellosem Seitenscheitel in Kabine eins wartete jedenfalls sehnsüchtig auf Kundschaft. »Nee, wir machen heute nur einen Block auf. Deswegen sitz ich hier alleine.« Alles klar, weitermachen.
Bekommt die Architektur des überdachten Stehplatzbereiches wegen der eher semioptimalen Sicht ein dickes Minus, punktet wiederum die Akustik. Die niedrige Höhe ermöglicht eine ideale Spielwiese für Wechselgesänge und Trommelschläge. Besonders beeindruckend erweist sich die Kollektivität und Homogenität zwischen den drei Heimrängen, zum Beispiel bei dem ohrenbetäubenden »K!« (West-Kurve), dem folgenden »S!« (Süd-Tribüne) und dem abschließenden »V!« der Nord-Tribüne.
Kurz gesagt: Die knapp Sechstausend klingen wie die doppelte Zuschaueranzahl in manch anderen Stadien. Zudem sorgt für die »nötige Aggressivität« das Kieler Storchen-Maskottchen »Stolle«, das so böse und Angst einflößend dreinschaut wie die fiese Krähe »Kra« aus Alfred J. Kwak. Es sollte sich auszahlen: Bereits dreißig Sekunden nach Anpfiff ist Burghausens Abwehr-Pressing (maximal ab Mittellinie) so vernichtend offensichtlich wie 3:11 Tore aus den fünf Partien zuvor.
Kick off
Die Störche machen von Beginn an das Spiel und können über ihre rechte Spielhälfte durch einfaches Hinterlaufen immer wieder bis zur Grundlinie vordringen. Überfordert, aber auch alleine gelassen, muss sich dabei der erst 21-jährige Moritz Moser gefühlt haben, in dessen Rücken nicht selten gleich mehrere Störche den Weg durch die Gasse erblickten.
Vor allem fällt schon nach wenigen Situationen gegen den Ball die körperliche Überlegenheit der Hausherren auf. Kaum ein Eins-gegen-Eins oder Kopfballduell können die Burghausener für sich entscheiden. Besonders im Zentrum sind die Kieler die überlegene Mannschaft.
Bestnoten im Spielaufbau verdienen sich Marcel Gebers (Innenverteidigung), sowie die Doppel-Sechs, bestehend aus Marlon Kruse und Tim Danneberg. Mit dem zwischenzeitlichen 2:0 sind die Gäste noch gut bedient. Doch ein Sekundenschlaf der kompletten Kieler Abwehr reicht für den Anschlusstreffer.
In Hälfte zwei wird der Kick ausgeglichener, zweikampfintensiver und daher auch zerfahrener. Das liegt an einem höheren Gang der Gäste, die zwar immer noch auf begrenztem Niveau Fußball spielen, jedoch Herz und Leidenschaft sprechen lassen. Am Ende hätte es 3:1 oder auch 2:2 stehen können. Dass es aber beim schlussendlich verdienten 2:1 bleibt, verdanken die Kieler einer starken ersten Halbzeit und noch stärkerem Publikum.
Weitsicht bis Schied
Ja, die 3. Liga. Kaum eine Spielklasse bietet aufgrund ihrer niveauähnlichen Vereine derart viele Überraschungen. Daher entscheiden, wie auch letztes Jahr, nicht schlichtweg nur breite Kader, sondern die Qualität dieser Breiten. Adäquates Ersetzen von fehlenden oder ausgelaugten Spielern gehört nicht in das Repertoire vieler Mannschaften. Holstein Kiel kann das stemmen. Eine Mannschaft mit jungen und alten, technisch versierten, aber auch kämpferischen Typen, die auch nach hinten raus erfahrene Leute wie Marcel Schied einwechseln kann, darf durchaus an eine erfolgreiche Saison im ersten Drittel denken.
Für Wacker hingegen wird es schwierig. Nervosität und Angst des Ballführenden sind ab der ersten Minute deutlich zu sehen. Nur die Phrase des »Erfolgserlebnisses« wird nicht ausreichen. Auch hatte man, abgesehen von technischen und taktischen Mängeln, in einigen Mannschaftsbereichen den Eindruck nicht ausreichender Fitness. Ob dies Trainersache ist, bleibt ungeklärt. Fakt ist, dass durch den Absprung einiger Sponsoren die Lizenzierung alles andere als einfach war und im Personal eingespart werden musste. Daher gibt es für die Oberbayern nur ein Ziel: Klassenerhalt.
Fazit: Faire Zuschauer, gute Atmosphäre und ein Stadion mit Kultcharakter. So macht der Fußballsamstag Lust und Laune. Schade nur, dass ein Derby gegen Lübeck für den neutralen Betrachter momentan so wüstenweit entfernt ist.
Bier: 8/10, 3.50 Euro Warsteiner 0,5 Liter – kalt, schmackhaft, süffig, perfekte Blume
Bratwurst: 6/10, 2,50 Euro – knackig, würzig, leider trockene Toastecken als Beilage, dafür Hela-Deluxe-Ketchup in drei Variationen
Stehplatzkarte: 9 Euro (ermäßigt)
Tore: 1:0 Heider (13.), 2:0 Johansen (23.), 2:1 Kulabas (29.)
Autor:
Heiko Rothenpieler
Bild:
Heiko Rothenpieler